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Candide
Titelseite der Erstausgabe
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Candide, ou l'Optimisme (1759). Von Voltaire (François-Marie Arouet).
«Alle Ereignisse sind miteinander verknüpft in der besten aller möglichen Welten; denn wärt Ihr schließlich nicht aus einem schönen Schloß mit derben Fußtritten in den Hintern davongejagt worden, der Liebe zu Fräulein Kunigunde wegen, wärt Ihr nicht der Inquisition in die Hände gefallen [...] dann würdet Ihr hier keine eingemachten Cedren und Pistazien essen.» - «Das ist wohl gesprochen», antwortete Candide, «aber wir müssen unseren Garten bestellen.»
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Der Inhalt
Candide, der unehehliche Sohn der Schwester eines Barones, lebt mit dem Baron in dessen schönen Schloss in Westphalen.
Von seinem Lehrer Pangloss, «dem größten Philosophen des Landes und daher der ganzen Welt», lernt der Jüngling einen unerschütterlichen Optimismus.
Nach Pangloss leben wir in der «besten aller möglichen Welten», und alle scheinbaren Makel lassen sich erklären: Nasen sind dafür gemacht, Brillen zu tragen, Steine dafür, Schlösser zu bauen und Beine zum Tragen von Strümpfen. Candide hat den Optimismus seines Lehrers ganz verinnerlicht, doch dann spielt das wirkliche Leben ihm einen Streich, der ihn aus seinem Schloss vertreibt:
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Candide wird verstoßen
Illustration von D. Chodowiecki
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Er verliebt sich in die Tochter des Barones, Kunigunde und wird mit ihr zusammen in einer verfänglichen Lage von seinem Hausherren erwischt.
Per Tritt in den Hintern wird der Held aus dem noblen Heim verstoßen. Candide muss für sich selbst sorgen und lässt sich in der bulgarischen Armee anwerben. Es beginnt eine Odysse über mehrere Kontinente, welche den Helden durch Schlachten, Naturkatastrophen, Gefangenschaft und Sklaverei führt und ihm schmerzlich vorführt, wie es tatsächlich um die Welt und die Menschen bestellt ist. Candide trifft dabei mehrfach seinen Lehrer und Kunigunde wieder.
Der Tritt in den Hintern
Illustration von Daniel Chodowiecki
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Jener durchlebt große Nöte, bleibt aber seinem Optimismus treu; diese war aus dem Schloss von bulgarischen Soldaten geraubt und misshandelt worden und lässt sich seither von wechselnden Männern aushalten.
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Als am Ende der Held in Frieden mit seiner Geliebten vereint ist, welche sich allerdings zu einer Xanthippe gewandelt hat, versucht der Lehrer ein letztes Mal, das erlebte Unheil schön zu sprechen: «Alle Ereignisse sind miteinander verknüpft in der besten aller möglichen Welten; denn wärt Ihr schließlich nicht aus einem schönen Schloß mit derben Fußtritten in den Hintern davongejagt worden, der Liebe zu Fräulein Kunigunde wegen, wärt Ihr nicht der Inquisition in die Hände gefallen, hättet Ihr nicht Amerika zu Fuß durchquert und nicht dem Baron einen Degenstoß versetzt, hättet Ihr nicht alle Eure Hammel aus dem guten Land Eldorado verloren, dann würdet Ihr hier keine eingemachten Cedren und Pistazien essen.» Der vom Schicksal unterrichtete Held hält seinem Lehrer ein anderes Rezept zur Glückseligkeit entgegen, welches er von einem alten Muselmann erfahren hat: «Das ist wohl gesprochen», antwortete Candide, «aber wir müssen unseren Garten bestellen.»
Aus: "Geschichte der Englischen Literatur" von Richard Wülker
und "Geschichte der Weltliteratur" von Carl Busse.
Der Verfasser
Voltaire ist ein Sohn des tüchtigen Bürgertums, des damals so mächtig emporstrebenden dritten Standes. Am 21. November 1694 ward er in Paris geboren; sein Vater war Notar und an der Pariser Rechnungskammer. In der Taufe erhielt das schwächliche Kind die Namen François Marie. Die Mutter starb schon nach einigen Jahren; auf den Rat eines einflussreichen Paten und Gönners ward der zehnjährige Franz Maria Arouet dem von den Jesuiten geleiteten Kolleg Louis-le-Grand zur Erziehung übergeben. Hier saß er mit den Kindern der ersten Adelsfamilien zusammen, lernte "Latein und dummes Zeug" (Voltaire) und verließ 1710 die Anstalt, um Jurist zu werden. Sein Pate führte ihn daneben in die vornehme Gesellschaft ein, und hier, in einem erlesenen Kreise, der in allen leiblichen und geistigen Genüssen schwelgte, entfalteten sich alle Gaben und Kräfte des frühreifen Jünglings auf überraschende Weise.
Voltaire
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Sein fixer Geist, sein skrupelloser Witz, seine Freiheit, ja Frechheit, die sich doch in den feinsten Formen bewegte, wurden von dieser skeptischen und heiteren Gesellschaft gewürdigt und angespornt, und seine Eitelkeit hätte sich zufrieden geben können, wenn er sich ganz als zugehörig zu dieser vornehmen Welt hätte betrachten dürfen. Aber durch Adel, Rang und Reichtum waren ihm die Leute, die ihm Beifall klatschten, weit überlegen, und man hat mit Recht gesagt, dass die schiefe Stellung, in die Voltaire sich früh begab, indem er sich aus Eitelkeit und Hang zum Wohlleben in sozial höhere Kreise drängte, seinen Charakter verdorben hat. | Als witziger Schöngeist der Salons schien er sich verzetteln zu wollen, erhielt wegen seiner Spottverse kurze Verbannungen zudiktiert, die er vergnüglich auf Provinzschlössern zubrachte, tafelte mit Herzögen, schnitt hohen und weniger hohen Damen die Kur, dichtete dazwischen Tragödien und führte ein äußerliches und etwas zielloses Gesellschaftsleben. Um die Kluft, die ihn von seinem reichen adligen Umgang schied, zu überbrücken, begann er erstens mit zähem Geschick seine Finanzen aufzubessern, indem er sich vom Regenten Geschenke und Privilegien erbat und selbst glänzend spekulierte, - dann aber adelte er sich auch selber, indem er sich 1718 zum ersten Male auf dem Drucktitel seiner Ödipus-Tragödie "Arouet de Voltaire" nannte. Der Name Voltaire ist durch Buchstabenversetzung aus Arouet l(e) j(eune) entstanden. Aber diejenigen Elemente, die den Eindringling in ihre feudalen Kreise sowieso mit Misstrauen betrachteten, wurden dadurch noch mehr gegen ihn eingenommen, und der Feldmarschall Chevalier de Rohan Chabot fragte ihn mehrfach, ob er nun eigentlich Arouet oder Voltaire heiße. Die schlagkräftige Antwort kränkte den Kavalier so, dass er einige Tage später den Schriftsteller unter einem Vorwand von der Tafel des Herzogs von Sully hinausbitten und den vor die Haustür Tretenden durch Lakaien mit Stockschlägen verprügeln ließ. Er verweigerte dem unebenbürtigen nachher jede Genugtuung, und da Voltaire sich nicht zufrieden gab und Lärm schlug, sorgten die mächtigen Rohans dafür, dass er in die Bastille gesperrt und nach England ins Exil abgeschoben ward.
In England lernte der Zweiunddreißigjährige das freie öffentliche Leben eines großen Volkes kennen, empfing auch von englischer Literatur und Wissenschaft unauslöschliche Eindrücke und kehrte nach etwa dreijährigem Aufenthalt, 1729, viel reicher, reifer und zielbewusster nach Frankreich zurück. Hier machte er sich durch allerlei Schriften unmöglich, wurde neuerdings verbannt und folgte endlich der Marquise du Châtelet nach ihrem auf der Grenze zwischen Lothringen und der Champagne gelegenen Schloss Cirey. Zehn Jahre lebte er mit dieser gelehrten, höchst vorurteilsfreien Dame, die sich auf solche Weise für eine unglückliche Ehe schadlos hielt, in einer von Festlichkeiten, geselligen Vergnügungen und Komödienspiel belebten Zurückgezogenheit zusammen, errang in Paris dann durch die Vermittlung der Pompadour die Gunst Ludwigs XV, ward geadelt, zum Kammerjunker und Historiographen von Frankreich ernannt, erhielt 1746 einen Sitz in der Akademie, ward aber durch Hofintrigen und literarischen Ärger veranlasst, nach Cirey zurückzukehren. Als Frau von Châtelet hier 1749 starb, war ihm der Aufenthalt verleidet und er folgte 1750 der dringenden Einladung Friedrichs II. nach Sanssouci. Schon seit 1736 hatte er mit dem Kronprinzen von Preußen, der dann 1740 den Thron bestieg, in Briefwechsel gestanden. Die leidenschaftliche Bewunderung, die Friedrich II. ihm entgegenbrachte, ist bekannt. Er empfing den Mann, den sein begrenzter Geschmack für einen großen Dichter hielt, mit huldigender Zärtlichkeit, machte ihn zum Kammerherrn, zum Ritter des Ordens pour le mérite und setzte ihm ein Gehalt von 20.000 Franken aus. Bei den berühmten Soupers entzückten sich der geistreichste König und der geistreichste Schriftsteller der Zeit zunächst immer mehr aneinander, aber allmählich gab es Reibereien, und 1753 kam es zum Bruch.
Voltaire liest aus seinem Candide
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Voltaire kaufte sich unter anderem eine Besitzung in Ferney im Französischen Grenzlande Gex. Hier hauste er die letzten 20 Jahre seines Lebens als Grandseigneur in fürstlichem Luxus, ließ sich ein eigenes Theater bauen und entwickelte eine geradezu ungeheuerliche, vielseitige Tätigkeit. Er ist die geistige Großmacht des 18. Jahrhunderts. | Er arbeitet unermüdlich weiter, auch als er das 80. Jahr überschritten hat. Als 84jähriger Greis sucht er, im Februar 1778, noch einmal Paris auf, wo er fürstlich gefeiert wurde. Er starb an diesem "excès de gloire" in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1778, nachdem er die ihn bedrängenden Priester zur Tür hinausgewiesen hatte. Die Pariser Geistlichkeit verweigerte ihm ein kirchliches Begräbnis, er fand es aber in der Abtei von Scellières, der sein Neffe vorstand. Auf Volksbeschluss wurden seine Gebeine 1791 im Pantheon beigesetzt, aber im Mai 1814 bei Nacht heimlich daraus entfernt und in eine auf einem Schindanger vor der Barrière de la Gare gelegene Kalkgrube geworfen.
Aus: "Geschichte der Weltliteratur" von Carl Busse.
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«Gutes und Böses halten sich die Waage in der von Voltaire beschriebenen Welt. Er entlarvt Utopien, Heilslehren, und jedes Paradies auf Erden als Illusion und setzt nach kritischer Prüfung allen Seinsspekulationen den Mut zur Arbeit, wenn nicht als letzten Sinn des Lebens, so doch als Möglichkeit, es mit Würde zu bestehen, entgegen.»
Ingrid Peter im Kindlers Literatur Lexikon
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