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Die Canterbury-Erzählungen
Anfang der Canterbury-Erzählungen -
Aus einer altenglischen Handschrift des 15. Jahrhunderts
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Canterbury Tales, 1391-1399. Von Geoffrey Chaucer.
«When April with his showers sweet with fruit
The drought of March has pierced unto the root /
And bathed each vein with liquor that has power /
To generate therein and sire the flower; /
When Zephyr also has, with his sweet breath, /
Quickened again, in every holt and heath, /
The tender shoots and buds, and the young sun /
Into the Ram one half his course has run, /
And many little birds make melody /
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That sleep through all the night with open eye /
(So Nature pricks them on to ramp and rage)- /
Then do folk long to go on pilgrimage...
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Der Inhalt
Die Canterbury-Erzählungen sind Vers- und Prosanovellen, die in einen entzückenden Rahmen gespannt sind. Ohne Zweifel hat die Leitidee, die dem "Dekamerone" zugrunde liegt und seine einzelnen Erzählungen verbindet, Chaucer hier die Wege gewiesen, aber schon die kürzeste Nacherzählung erweist, wieviel lebendiger und humorvoller die Einkleidung ist, die der Engländer gefunden hat.
Das Gasthaus zum "Heroldsrock" (später "Talbot Inn") in Southwark
Ausgangspunkt der Pilgerfahrt.
In einem Wirtshaus zu Southwark nämlich, einer Vorstadt Londons, trifft der Dichter 28 Wallfahrer, die nach Canterbury zu dem Grabe des heiligen Thomas Becket pilgern wollen. Er schließt sich ihnen an, desgleichen der schlaue Wirt, der jedoch die Bedingung stellt, jeder Teilnehmer solle auf der Hin- und Rückreise je zwei Geschichten erzählen, und derjenige, der seine Sache am besten mache, solle dafür auf Kosten der übrigen in seinem, des Wirtes, Gasthaus eine köstliche Mahlzeit erhalten.
Durch die Gestalt dieses spitzbübischen Wirtes, der in jedem Falle seinen Vorteil findet, wird die Einkleidung selber zur Novelle, und während die Damen und Herren, die im Dekamerone Geschichten erzählen, alle befreundet, sozial gleichgestellt und wenig voneinander verschieden sind, setzt sich die Pilgerschar, die Chaucer auf die Beine bringt, aus den heterogensten Elementen zusammen. |
Pilger in Canterbury Nach einer altenglischen Handschrift des 15. Jhd.
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Bis auf den hohen Adel sind alle Bevölkerungsschichten in dem vom Zufall zusammengewürfelten Kreise vertreten, und wie der Ritter neben dem Bettelbruder, die Nonne neben der nach dem sechsten Mann angelnden Witwe von Bath,
Die Thomas Becket-Kapelle zu Canterbury.
| der trinkfrohe Büttel neben dem gelehrten Arzt, der Oxforder Student neben dem groben Müller, der gute Priester neben dem gerissenen Ablasskrämer usw. steht, so steht auch eine Novelle in höfischem Geschmack neben altem schönem Volksgut, eine fromme Märtyrerlegende neben der kräftigsten Zote, die Geschichte von der treuen Griseldis neben einer Burleske. |
Auch hier sind wie bei Boccaccio die gepfeffertsten Geschichten meist die lustigsten und lebendigsten. Die Stoffe hat Chaucer nicht erfunden, sondern sie allen möglichen Quellen (lateinischen Sammlungen, altfranzösischen Fabliaux, dem Decamerone usw.) entnommen, aber wie er sie geformt hat, das ist meisterhaft!
Bis auf zwei in Prosa geschriebene sind die vorhandenen Novellen - von den geplanten 120 leider nur 24 - in zehn- oder achtsilbigen Reimversen verfasst, und es ist bewunderungswürdig, wie knapp und schlagend Chaucer in der Form dieses Verses charakterisiert. Da ist der Gutsverwalter:
«... von hagerer Statur
und glatt rasiert, cholerisch von Natur;
Sein Haar war um die Ohren weggeputzt
Und vorn wie bei den Priestern kurz gestutzt.
Höchst dürr und länglich war sein Lendenpaar
Wie Hopfenstangen - Waden unsichtbar!»
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Der Gutsverwalter Aus der Ellesmere-Handschrift (15. Jhd.)
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Ebenso knapp und scharf umrissen sind alle anderen Personen: es sei nur erinnert an den rothaarigen, zotenreißenden, als Boxer berühmten Müller, der durch sein Dudelsackblasen die Gesellschaft zum Rasen bringt; an den geistlichen Büttel mit dem weinfrohen, sinnenbedeckten Gesicht, der in der Betrunkenheit nur lateinisch redet; an die keusche Priorin Frau Eglantine:
«Die wohl sich auf den Messedienst verstand
Und stets höchst lieblich durch die Nase lang;
Französisch sprach sie auch mit feinem Klang
Wie man in Stratford es auf Schulen spricht -
Französisch von Paris verstand sie nicht.»
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Die Priorin Aus der Ellesmere-Handschrift (15. Jhd.)
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Prächtiger aber noch ist die Witwe von Bath, die sich in jüngeren Tagen gut amüsiert hat, fünf Männer unter die Erde brachte, sich ständig auf Wallfahrten befindet und nach dem sechsten Mann ausspäht, «stark, von heißem Blut, keck wie 'ne Elster und voll Übermut».
Aus: "Geschichte der Weltliteratur" von Carl Busse.
Der Verfasser
Als Sohn eines Weinhändlers um 1340 in London geboren, nahm Geoffrey Chaucer 1359 wahrscheinlich an dem französischen Feldzuge Eduards III. teil, geriet in Kriegsgefangenschaft, trat nach seiner Auslösung als "Valet" in den Hofdienst und ward mit politischen Aufträgen bald hierhin, bald dorthin gesandt, wobei Reisen nach Italien und Frankreich wegen ihres Einflusses auf seine dichterische Entwicklung besondere Hervorhebung verdienen. |
Chaucers Portrait von seinem Schüler Thomas Hoccleve
| Als Günstling des Herzogs von Lancaster, bei dessen zweiter Gemahlin Chaucers Frau Philippa Hofdame war, stieg der Dichter immer höher; ein Teil der Londonder Hafenzölle ward ihm unterstellt, aber als 1386 die parlamentarische Opposition unter Gloucester gegen den minderjährigen Richard II. und den Herzog von Lancaster triumphierte,
verlor Chaucer sein Amt und geriet bald in bitterste Bedrängnis. Gerade in dieser Zeit der Not (1387) starb auch seine Frau. Und nur wenige Lichtblicke waren ihm bis ans Lebensende noch beschieden.
Chaucers Grab in der Dichterecke der Westminster Abtei
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Zwar machte der mündig gewordene König ihn 1390 zum Aufseher der königlichen Bauten, doch schon 1391 entzog er ihm Gunst und Amt, und erst als 1399 mit Heinrich IV., dem Sohne seines alten Gönners, des Herzogs von Lancaster, ein neuer König den englischen Thron bestieg, erhielt der oft von Schuldhaft bedrohte Chaucer ein größeres Jahresgehalt. Er starb jedoch schon kurz danach: am 25. Oktober 1400. Als erster Dichter ruht er in der "Dichterecke" der Westminster Abtei.
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Aus: "Geschichte der Weltliteratur" von Carl Busse.
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«Die heitere Farbigkeit, der spitzbübische Humor der Canterbury Geschichten sind bis auf den heutigen Tag nicht verstaubt und machen die außerordentliche Resonanz begreiflich, die das Werk im 15. Jahrhundert fand.»
Gisela Hesse im Kindlers Literatur Lexikon
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